Unsere Kollegen der Verkehrsbetriebe Hamburg-Holstein (VHH) hatten die tolle Idee einer #ÖPNV-Blogparade. Gesucht werden Lieblingslinien. Wir schließen uns der Idee natürlich sehr gerne an. Dazu sind wir auf den Abgrund zugefahren.

Welche Linie ist unsere Lieblingslinie? Schwer zu beantworten! Zum einen gibt es im AVV viele interessante Linien, zum anderen sind wir der Verbund und wollen neutral sein. Kurz rauchten unsere Köpfe, dann kam uns eine Idee. Eine Besonderheit in unserem Verbundgebiet ist das Rheinische Braunkohlerevier mit den drei riesigen Tagebauen Garzweiler, Inden und Hambach. Schnell fiel unsere Wahl auf die Linie EK3, die in großen Teilen das künftige Abbaugebiet von Garzweiler II bedient und teilweise durch Geisterdörfer fährt, die fast komplett umgesiedelt sind. Also sind wir mitgefahren. Lest selbst!

Fahrt an den Abgrund

Ein sonniger Morgen im November. Wir stehen am Bahnhof in Erkelenz und warten auf die Stadtbuslinie EK3. Ehrlich gesagt ist der Begriff Stadtbuslinie irreführend, denn die Linie verbindet acht Dörfer im ländlich geprägten Osten der Stadt mit dem Zentrum. Städtisch geprägt ist lediglich ein kurzes Stück des Linienwegs. Die 45.000 Einwohner zählende Stadt liegt im Norden unseres Verbundgebietes, rund 50 km nördlich von Aachen und 20 km südlich von Mönchengladbach.

Neben uns hört ein Jugendlicher Musik, aus den Kopfhörern dröhnt „Au Revoir“ von Mark Forster. Irgendwie passend, vor dem was uns in den kommenden Anderthalbstunden erwartet. Denn die Fahrt führt uns zu großen Teilen durch das künftige Tagebauloch des Braunkohletagebaus Garzweiler II. Rund 1/3 des Stadtgebietes wird bis 2040 weggebaggert werden, neun Dörfer mit rund 7.000 Einwohnern müssen dem Tagebau weichen.

Franz-Josef Classen am Steuer seines Busses.
Franz-Josef Classen, seit 27 Jahren Busfahrer bei der WestEnergie und Verkehr, am Steuer seines Busses.

Pünktlich um 10:07 Uhr kommt der Bus vorgefahren. Wir steigen zu Fahrer Franz-Josef Classen in den Bus. Mit uns sitzen 14 Fahrgäste im großen Gelenkbus. Recht schnell erreichen wir die Stadtgrenze der Kernstadt und befinden uns mitten auf dem platten Land. Über Bellinghoven fährt der Bus nach Immerath (neu). In dem seit 2006 im Bau befindlichen Stadtteil werden rund 700 Einwohner aus den derzeit in der Umsiedlung befindlichen Orten Immerath und Lützerath sowie aus dem bereits abgerissenen Pesch eine neue Heimat finden.

Alles neu, außer den Denkmälern

In Immerath (neu) tragen selbst die Straßennamen den Zusatz neu in Klammern, da die Straßennamen aus den alten Ortschaften sich auch hier wieder finden in der Hoffnung, dass sich Heimatgefühle auch am neuen Wohnort zügig einstellen. Auch wenn alles getan wird, damit sich die Bewohner wohl fühlen – es gibt einen modernen Kunstrasensportplatz, Kindergarten, Bürgerhaus, die Denkmäler sind aus den alten Orten mitumgezogen – siedeln längst nicht alle Bewohner in den neuen Ort um. Einige ziehen es vor, zu ihren Kindern oder in die Nähe ihres Arbeitsplatzes zu ziehen.

Haltstelle Immerath neu.
Immerath (neu) – neue Heimat für viele Umsiedler. Es wird viel gebaut, auch die Haltestelle ist noch nicht ganz fertig.

Im nächsten Ort Kückhoven leert sich der Bus zu großen Teilen. Wenige Fahrgäste fahren noch einen Ort weiter bis Holzweiler, dann befindet sich nur noch eine alte Dame mit uns im Bus. Holzweiler sollte ursprünglich auch abgebaggert werden, die Umsiedlung befand sich in Vorbereitung, bis im März im Rahmen der Energiewende von der Landesregierung beschlossen wurde, den Tagebau zu verkleinern. Holzweiler ist den Schaufelradbaggern nochmal von der Schaufel gesprungen. Künftig wird das riesige Loch bis an den Ortsrand reichen, in wenigen Jahrzehnten wird Holzweiler an einem See liegen, soll doch nach Ende des Braunkohleabbaues das Restloch mit Wasser aufgefüllt werden.

Jetzt hat Franz-Josef Classen Zeit. Auch Zeit, sich mit uns zu unterhalten.  Vorbei an den für die Region prägenden Zuckerrübenfeldern setzen wir unsere Fahrt fort. Am Horizont tauchen schon die Silhouetten der riesigen Schaufelradbagger auf.

Hinweisschild mit alten Orten.
Noch führt die Straße geradeaus nach Immerath. Bald wird auch dieser Ort wie viele vor ihm gerodet sein. Otzenrath ist bereits Geschichte. Im Hintergrund die Rübenernte: Der fruchtbare, lösshaltige Boden wird bis zum bitteren Ende genutzt.

Barzahler? Mangelware!

Franz-Josef Classen ist seit 27 Jahren Fahrer bei WestEnergie und Verkehr. Er wird regelmäßig auf der Linie EK3 eingesetzt und kennt mittlerweile viele Fahrgäste persönlich – gerade in den schon in der Umsiedlung befindlichen Orten Lützerath, Immerath und Borschemich, die wir als nächstes ansteuern werden. In Gedanken murmelt er vor sich hin „drei in Borschemich, einer in Immerath und einer in Lützerath“. Das ist die Zahl der Stammfahrgäste, die regelmäßig in den Orten zusteigen. Und das bei einer Fahrt in der morgendlichen Spitze. Schüler oder Berufstätige. Über den Tag verteilt steigt in den Orten meistens niemand mehr ein oder aus. Barzahlende Fahrgäste gibt es hier nicht mehr, so Classen.

Kein Wunder, dass die Linie zum nächsten Fahrplanwechsel angepasst wird. Noch fährt sie wochentags im Stundentakt – demnächst wird sie die fast gänzlich umgesiedelten Orte Lützerath, Immerath und Borschemich nur mit wenigen Fahrten zu Schulzeiten bedienen. Es rechnet sich nicht mehr, oder wie Classen es in seiner rheinischen Art ausdrückt, „die Gegend liegt in den letzten Zügen.“

Verlassene Haltestelle.
In den letzten Zügen: Aufgegebene Haltestelle am Ortsrand von Lützerath.

Warum dies erst jetzt geschieht, wo in Immerath und Borschemich nur noch ganz wenige Einwohner übriggeblieben sind, wollen wir wissen. Franz-Josef Classen erklärt dies mit der nötigen Sensibilität den Betroffenen gegenüber. Sie verlieren nach teils jahrelangen Klagen und Gerichtsprozessen ihre Heimat. Da wird dann wenigstens versucht, ein einigermaßen geregeltes Leben in den Orten bis zum Schluss aufrechtzuerhalten.

Classen nennt als Beispiel die verlegte Haltestelle am Weiler Lützerath. Seit der Bus nicht mehr die Schleife durch den kleinen Ort dreht, wird nur noch die Haltestelle auf der Landstraße am Ortseingang bedient. Auf Wunsch der Eltern des Schülers, der als letzter regelmäßiger Einsteiger übrig geblieben ist, wurde die Haltestelle 50 Meter näher an den Ortseingang verlegt. „Man muss halt sehr sensibel den Umsiedlern gegenüber sein“, so Classen.

Abrissarbeiten am Ortseingang von Immerath.
Am Orteingang von Immerath ist der Abriss des alten Dorfes bereits in vollem Gange.

Deutsche Gründlichkeit

Mittlerweile haben wir Immerath erreicht. Am Ortseingang steht ein Schild „Ja zur Heimat! Stop Rheinbraun“, wie man sie vielfach in der Region sieht. Trotzdem hat ein Großteil der Bewohner ihre alte Heimat bereits verlassen, der Ort gleicht einem Geisterdorf. Wir halten kurz an der Haltestelle „Immerath Busbahnhof“ in der Ortsmitte. Die EK3 ist die einzige Linie, die dort noch hält. Alle weiteren Linien sind bereits eingestellt, ihre Linienwege und Ziele abgebaggert.

Hauptstrasse in Immerath.
Geschlossene Rollläden und leere Straßen verbreiten in Immerath eine gespenstige Atmosphäre.

Früher lag weiter östlich der bereits vollständig abgerissene Ortsteil Pesch. Noch weiter östlich, wo jetzt schon das riesige Loch des Tagebaus klafft, grenzten die Orte Otzenrath und Spenrath an. Die Hinweisschilder weisen noch den Weg nach Otzenrath. Das Hinterland ist weggebrochen, in Immerath kommen wir uns vor wie am Ende der Welt. Durch den fast leeren Ort heulen die Laubbläser der Arbeiter, die die Ortsmitte vom Laub befreien. Deutsche Gründlichkeit – oder doch wieder der Sensibilität geschuldet. Oder aber von beidem ein bisschen.

Der Dom von Immerath.
Der „Dom von Immerath“ wurde bereits profaniert und die Glocken herausgerissen. Sie haben ihren Platz in der Kapelle von Immerath (neu) gefunden.

Classen steuert seinen Bus mit uns und der einen älteren Dame durch die leeren Straßen, vorbei am bereits länger geschlossenen Krankenhaus und dem im letzten Herbst entweihten „Dom von Immerath“ – der alten Pfarrkirche im Stil einer neuromanischen Basilika – auf die kleine Landstraße nach Borschemich.

Totenstille im Geisterdorf

Dort, jenseits der Autobahn 61, die auch weggebaggert werden wird, sind wir dann sprichwörtlich am Abgrund angekommen. Der Ort ist fast komplett umgesiedelt und zu großen Teilen bereits dem Erdboden gleichgemacht worden. Selbst der Friedhof ist samt der Toten umgesiedelt worden. Am Ortsrand graben sich die riesigen Schaufelradbagger auf der Suche nach Braunkohle unaufhörlich in die Erde. Tag für Tag kommen die Bagger dem Ort ein Stück näher. Kaum vorstellbar, dass hier noch jemand wohnt.

Halt in Borschemich.
Der alte Ortskern von Borschemich. Ein paar verlassene Häuser stehen noch. Rechts erobert sich die Natur die restliche Fläche zurück, wo vor ein paar Jahren noch Häuser standen. Bis die Schaufelradbagger kommen.

Auch wenn niemand an der Haltestelle steht, geschweige denn aussteigen will, halten wir kurz. Der Fahrplan muss ja eingehalten werden. Uns umgibt ein morbider Charme. Nicht unweit der Haltestelle steht ein Polizeiwagen und kontrolliert zwei Frauen in einem Jeep. Es stellt sich aber heraus, dass sie für einen Umweltverband unterwegs und nicht zum Plündern hier sind. Plünderer stellen ein großes Problem dar. Sie brechen die verlassenen Häuser auf der Suche nach Verwertbarem auf. Geklaut wird alles, was brauchbar erscheint. Selbst vor Rollläden oder Fenstern wird nicht Halt gemacht. Deswegen zeigt die Polizei erhöhte Präsenz, daneben patrouilliert der RWE Werkschutz sowie ein privater Sicherheitsdienst – bezahlt vom Tagebaubetreiber RWE Power.

Strasse endet am Tagebauloch.
Road to nowhere: Wo vor wenigen Jahren noch die Buslinie Richtung Otzenrath fuhr, endet die Straße jetzt im Nichts.

Classen setzt seine Fahrt fort. Schließlich möchte die alte Dame ja auch an ihr Ziel. Neben einigen Fahrzeugen von RWE Power und Bautrupps, die mit dem Abriss beschäftigt sind, kommt uns nur noch die Post entgegen. Ansonsten herrscht tote Hose. Die Umsiedlung läuft seit 2006 und soll im kommenden Jahr abgeschlossen sein, 2012 begann der Abriss. In etwas mehr als zwei Jahren wird der Ort im Tagebau verschwinden.

Früher, ja früher …

Es geht zurück gen Westen nach Keyenberg, der Endstation. Dort steigt auch die alte Dame aus, die die ganze Zeit gedankenverloren im Bus gesessen hat. Woran sie bloß gedacht hat? Auch sie wird ihre Heimat verlieren, denn Keyenberg wird ebenfalls dem Tagebau weichen müssen. Der Ort hat allerdings noch ein wenig mehr Zeit – hatte aber nicht das Glück von Holzweiler. In wenigen Jahren wird die Umsiedlung beginnen, bis 2025 wird Keyenberg dem Tagebau weichen.

Blick in den Tagebau Garzweiler.
Am Abgrund angekommen: Vor uns liegt der Braunkohletagebau Garzweiler II, eines der größten Löcher Europas. Die Riesenbagger graben sich Stück für Stück weiter Richtung Westen.

An der Endstation hat Franz Josef Classen 15 Minuten Pause. Er erzählt von früheren Zeiten. Bis Ende der 80er Jahre fuhr die Linie EK3 als 414 noch weiter über Wanlo bis nach Mönchengladbach-Rheydt. „Was damals hier noch los war“, schwärmt er. Mit dem Strukturwandel sind viele Arbeitsplätze verloren gegangen, daher wurde die Linie zunächst bis Wanlo gekürzt. Vor wenigen Jahren wurde auch der Abschnitt eingekürzt, er war einfach nicht mehr rentabel. Viele Berufstätige sind frühzeitig aus den umgesiedelten Orten weggezogen, zurück bleiben die Alten. Für einzelne Berufstätige gibt es noch eine letzte Stichfahrt nach Wanlo, dort besteht Anschluss an den Bus nach Rheydt. Wenn dann bald alle fortgezogen sind, fällt auch diese Fahrt weg.

Der Bus rollt durch Borschemich.
Wo fast niemand mehr wohnt, steigt auch fast niemand mehr zu. In Borschemich gibt es nur noch drei regelmäßige Zusteiger.

Seelenruhig hinter den Rübentraktoren her

Auf der Rückfahrt lenkt Franz-Josef Classen seinen Bus mit uns alleine seelenruhig durch das künftige Abbaugebiet. Er erzählt von dem Konflikt, in dem sich viele Bewohner in den Umsiedlungsorten befinden. Einerseits ist RWE Power der größte Arbeitgeber in der Region – aus fast jeder Familie arbeitet jemand bei RWE Power –, andererseits ist RWE Power für den Verlust der alten Heimat verantwortlich.

Schild "Ja zur Heimat".
Vergeblicher Protest gegen den Braunkohletagebau und den Verlust der alten Heimat.

Auch die zahlreichen, mit Rüben beladenen Traktoren, die den Bus immer wieder aufhalten, bringen Classen nicht aus der Ruhe. Lachend meint er, die Zeit holt er locker wieder auf. Recht hat der Mann, denn die Haltestellen bis Holzweiler passieren wir alle ohne einen einzigen Halt. Im Berufsverkehr wird es ab hier richtig voll, dann gibt es auch im Gelenkbus keinen Sitzplatz mehr, so Classen. Auch jetzt, um kurz nach 11 Uhr, steigen hier wieder Fahrgäste zu, der Bus füllt sich wieder mit Leben. Wir sind wieder in der Zivilisation angekommen.

Pünktlich um 11:27 Uhr erreichen wir den Bahnhof in Erkelenz. Die Sonne scheint immer noch. Aber es ist irgendwie trotzdem ein trister Tag. Wir müssen an den Song „Au Revoir“ denken. „Es gibt nichts was mich hält au Revoir, au Revoir, au Revoir. Es wird nie mehr sein wie es war, ich bin weg oh oh au Revoir.“ singt Mark Forster. Wie traurig. Wie passend.