Jede Linie hat ihr eigenes Gesicht. Das ist heute so, war aber auch zu Zeiten der Öcher Tram so. Eine unterhaltsame Studie unter der Überschrift „Kleinbahnpsycholigie“ über die Tram und ihre verschiedenen Linien veröffentlichte die der Aachener Zeitung „Echo der Gegenwart“ am 9. Januar 1926.
Kleinbahnpsychologie: Jede Linie hat ihr eigenes Gesicht – Unterhaltsame Studie
Aachen hat seine Kleinbahn; in anderen Städten nennt man das gleiche Institut Straßenbahn. Aber der Name tut nichts zur Sache. Wie in den anderen Städten mit der Straßenbahn, so fahren wir hier eben mit der Kleinbahn. Also los!
Welche Linie? Natürlich Linie 6! Im Volksmund heißt sie kurz „die Sechs“, denn sie übertrifft alle anderen Linien an Popularität. Mit „der Sechs“ kann man sozusagen überall hinfahren: vom Theater nach Burtscheid, von der Ludwigsallee zum Hauptbahnhof, vom Hauptbahnhof zum Lousberg, vom Hansemannplatz zur Normaluhr, vom Kurhaus zum Kaiserplatz, kurz die Linie 6 ist in Aachen die Rundbahn. Das ist für sie typisch und gibt ihr ihr Gesicht. Sie ist die Bahn derer, die fahren „wenn gerade eine Kleinbahn kommt“, der Eiligen und Kurzatmigen, der Bewohner der Ludwigsallee so gut wie der Burtscheider. Im Sommer fährt sie ungezählte Fahrgäste nach Siegel, im Winter und bei Regenwetter ist sie in der Stadt stets überfüllt. Neben dem ewig schimpfenden dicken Herrn sitzt der junge Bursche, der das Rauchverbot nicht beachtet, und neben ihm die alte Dame mit dem Schreckensruf „Es zieht“ auf den Lippen. An jeder Haltestelle wechselt das Bild, viele steigen aus und viele ein, und wo Menschen zusammenstehen, da hört man: „Gottseidank, da kommt die Sechs.“ Nur einen großen Fehler hat sie, daß sie nämlich auch durch den Dahmengraben fährt; darum muß sie sich mit den ältesten Wagen abquälen, die die Aachener Kleinbahn noch hat und die im Stadtbild der Großstadt vorsündflutlich anmuten, denn für den Dahmengraben, namentlich für die Kurve an der Ecke Comphausbadstraße, sind die den Anforderungen der Neuzeit entsprechenden Wagen zu breit.
Auch die Linie 8 fährt zum Hauptbahnhof. Sie ist nicht ganz so populär wie die Sechs, dafür aber etwas distinguierter. Sie fährt durch die Alexander-, Großköln- und ]akobstraße, und daher gehören zu ihren ständigen Fahrgästen die Einkäufer und Einkäuferinnen, die mit mehr oder weniger großen Paketen beladen sind, für diese aber in den Gepäcknetzen Platz finden. Denn auf der Linie 8 fahren im Gegensatz zur Sechs nur die neuzeitlichen Wagen. Übrigens trägt auch die Linie 8 im Sommer manchen Aachener in den nahen Wald – Waldschenke, Grundhaus – wie ja überhaupt in Aachen fast jede Linie in den Wald führt. Die Linie 9 verbindet den Aachener Hauptbahnhof sogar mit dem neubelgischen Altenberg; im übrigen fährt sie die Strecke der Linie 8.
Die meisten Koffer hat die Linie 7 zu tragen, die mit der Linie 6 das Schicksal teilt, sich durch den Dahmengraben zwängen zu müssen. Sie ist die Linie der Reisenden, denn ihr Anfangspunkt liegt beim Hauptbahnhof und ihr Endpunkt beim Westbahnhof; die Schaffner der Linie 7 sollten daher sämtliche Fahrpläne im Kopf haben.
Sehr beliebt ist auch die Linie 12, die die Stadt von Westen nach Osten durchquert. Sie ist die Linie der Zeitkarten, die um die Morgen-, Mittags- und Abendstunden stets überfüllt ist. Auch hat sie eine gewisse „internationale“ Bedeutung, denn bekanntlich endet sie beim Bahnhof in Vaals, unserer holländischen Nachbarstadt. Da sie zum Westpark führt, befördert sie in den Abendstunden viel Versammlungspublikum. Daher wird in „der Zwölf“ am meisten politisiert.
In einem gewissen Gegensatz dazu steht die Linie 2, die mit der Zwölf nur eins gemeinsam hat, nämlich daß sie durch die enge und verkehrsreiche Adalbertstraße fährt. In der Linie 2 stellen namentlich in den Nachmittagsstunden die zur Goethestraße fahrenden Krankenhausbesucher das vorherrschende Element dar; daher die vielen Blumen, die zierlich verpackten, vorsichtig getragenen Päckchen, die bekümmerten Mienen und leisen Unterhaltungen. Für den Ausflugsverkehr ist die Linie 2 wichtig, weil der reizende Vorort Ronheide ihre Endstation ist. Das gibt ihr ein gewisses vornehmes Gepräge.
Vornehmer als die übrigen kommt sich aber vor allem die Linie 14 vor, die Linie Frankenberg – Linzenshäuschen. Sie durchfährt nur schöne, breite Straßen, an ihrem Wege liegen die meisten Villen und herrschaftlichen Häuser, im Sommer ist sie bei den frohgestimmten Ausflüglern besonders beliebt, und seit sie den Abstecher zum Theater macht, ist sie auch die Linie des vornehmen Theaterpublikums geworden. Zu normalen Zeiten ist die Linie 14 nie überfüllt. Nah verwandt ist ihr die Linie 24, die über Linzenshäuschen hinaus zur belgischen Grenze fährt.
Einen durchaus anderen Typ stellt die Linie 1 mit ihren „Zeppelinwagen“ dar. Sie ist die Bahn des Vorortverkehrs und verbindet den nächstgelegenen Vorort, die Gemeinde Haaren, mit der Stadt. Schon die langen Bänke der Zeppelinwagen lassen darauf schließen, daß sie zu gewissen Stunden des Tages einen Massenverkehr zu bewältigen hat, der natürlich zum großen Teil durch Zeitkarteninhaber entsteht.
In mancher Hinsicht verwandt mit ihr ist die Linie 15, die mit der Linie 1 den Vorzug teilt, die Zeppelinwagen zu haben. Sie fährt bis Haaren den gleichen Weg wie die Linie 1, hat aber eine größere Aufgabe zu erfüllen, denn sie erschließt die Industrieorte Weiden, Linden-Neusen und Mariadorf dem Verkehr mit der Großstadt Aachen. Die Linie 15 hat von allen Linien den stärksten Arbeiterverkehr und gehört zu den wirtschaftlich bedeutendsten des ganzen Netzes.
Viele Feinde hat hingegen die Linie 16; sie soll den größten „Vorort“, die Stadt Würselen, mit Aachen verbinden, macht zu diesem Zwecke aber den weiten Umweg über Kaninsberg, was ihr von den Würselern und Bardenbergern sehr verübelt wird; die Forderung, die Gleise über die Krefelderstraße statt über die ]ülicherstraße zu legen, findet immer mehr Anklang, doch ist diese Umlegung ein in seiner Tragweite nicht zu unterschätzendes finanzpolitisches Problem.
Wichtig für den Vorortverkehr sind auch die dunkelgrünen, weniger freundlich aussehenden Wagen der kürzlich in die Stadt hinein verlängerten Linie 28, die Laurensberg, Kohlscheid, Herzogenrath und Merkstein mit Aachen verbindet; auch sie hat einen starken Arbeiterverkehr und ist wirtschafts- und verkehrspolitisch sehr wichtig. Blieben noch die Linien 18, 26 und 31. Sie sind, zusammen mit der Linie 12, die Linien des Adalbertsteinwegs und werden viel von Trauergästen, die zum Alten Friedhof fahren, benutzt, sind aber gleichzeitig auch wichtige Vorortslinien. Während auf der Linie 18, die über Eilendorf nach Atsch – Eschweiler – Weisweiler fährt, der Arbeiterverkehr vorherrscht, bringen die Linien 26 und 31 viele Landwirte aus dem „Südkreis“ in die Stadt.
Außerdem führt die Aachener Kleinbahn noch eine Reihe von Linien, die wir Aachener kaum kennen, weil sie die Stadt nicht berühren; so die Linie 19, die Stolberg mit seinem auf Eschweiler Gebiet liegenden Hauptbahnhof verbindet, die Linien 20, 21 und 22, die ebensogut Eschweiler Straßenbahnen sein könnten, und die Linie 30 Richterich – Harbach.
Alles in allem: Auch die Psychologie der Kleinbahn ist interessant. Jede Strecke hat ihr eigenes Publikum, jede Linie ihr eigenes Gesicht. Nur ein Element verteilt sich auf alle Linien: die Unzufriedenen. Das sind die, die getreu an der Überzeugung festhalten, daß überall anderswo alles besser ist als in Aachen, selbst in Krähwinkel und Posemuckel. Solche Leute hat es vor vierzig Jahren in der Pferdebahn gegeben, gibt es heute in der Kleinbahn, wird es nächstes Jahr in den Polsterwagen geben, in drei Jahren in der Schnellbahn und in zehn Jahren in den Stadtflugzeugen der „Aachener Luftverkehrsgesellschaft, vormals Aachener Kleinbahn“.
Artikel aus dem „Echo der Gegenwart“ vom 9.1.1926 | Foto: Stadtarchiv Aachen