Genau vor 20 Jahren nahm die euregiobahn – viele kennen sie auch als RB 20 – ihren Betrieb auf. Heute verbindet sie die Städte rund um Aachen mit- und untereinander und fährt sogar bis nach Düren. Die Entwicklung der Zahlen lässt sich nachlesen: Von anfänglich täglich rund 2.600 Fahrgästen ist die Zahl der täglichen Fahrgäste durch den Ausbau des Netzes mittlerweile auf über 17.500 im Jahr 2019 angewachsen. Ein Wachstum, das sich sehen lassen kann. Was viele bei diesem Erfolg allerdings nicht mehr wissen: Die Etablierung der erfolgreichen euregiobahn war anfangs gar nicht selbstverständlich. Ihrem Ausbau zugrunde liegen die Reaktivierung vieler Strecken rund um Alsdorf, Eschweiler, Herzogenrath und Stolberg, die eigentlich stillgelegt werden sollten und in diesem Zuge viele Gespräche, viele Arbeitsstunden, viele Diskussionen – mit Politik, Anwohnern, der Deutschen Bahn und der heutigen EVS. NVR-Geschäftsführer Heiko Sedlaczek resümierte erst kürzlich: „Die damalige Entscheidung, zum Ausbau der euregiobahn war und ist bis heute goldrichtig. Mein besonderer Dank gilt daher allen Beteiligten, die Ende der 90er Jahre diese weitsichtige Entscheidung zum stufenweisen Ausbau der euregiobahn getroffen haben.“ Einer dieser Beteiligten? Hans Joachim Sistenich, den viele metaphorisch auch „den Vater der euregiobahn“ nennen. Wieso das so ist und welche Rolle ein Bierdeckel zur Stunde null einnahm, hat er uns für den Blog erzählt.

Hans Joachim Sistenich war von 1994 anfangs Prokurist und ab 1996 Geschäftsführer des Aachener Verkehrsverbundes und ab 2008 zusätzlich Geschäftsführer des Nahverkehr Rheinlands, der seit diesem Zeitpunkt für den Schienenpersonennahverkehr im AVV und VRS zuständig ist. Seit 2013 ist Hans Joachim Sistenich im Unruhestand und weiter mit Schienenthemen in unserer Region aktiv.

Der Startschuss: Der Plan der Deutschen Bahn, einen großen Teil des Streckennetzes in der Region stillzulegen

Als die Deutsche Bahn in den 90er Jahren bekannt gab, knapp 70 km Streckennetz in der Region stilllegen zu wollen, war der Aufschrei groß. Doch ein Plan, wie man damit umgehen wollte, fehlte. Hans Joachim Sistenich erinnert sich: „Wir hatten natürlich in diesem Zuge mehrere Versuche gestartet, beim Land diese Strecken, die ja stillgelegt werden sollten, zu sichern – aber uns fehlte noch ein Gesamtkonstrukt, wie es dann weitergehen sollte. So hatten wir da natürlich keine Chance.“ Sistenich traf dann durch Zufall auf einen Unternehmer aus Stolberg – Ewald Schmitz, der dort ein Schotterunternehmen betrieb. Da zu befürchten war, dass auch die Stolberger Strecke zu seinem Unternehmen stillgelegt würde, war auch er bemüht, diese Strecke sprichwörtlich am Leben zu erhalten. „Dann habe ich so lange auf ihn eingewirkt, bis er zustimmte, sich zusammen zu tun und ein gemeinsames Konzept zu erarbeiten. Wir hatten bereits Überlegungen für eine Neustrukturierung des gesamten Schienenverkehrs im AVV. Mit diesem Konzept konnte auch die Stolberger Strecke gerettet werden. Außerdem stand die Frage im Raum, diese Strecke zu übernehmen. Erst sprach man da nur von Stolberg, relativ schnell ging es aber dann schon um das ganze Netz. Es sollte ein neues Eisenbahninfrastrukturunternehmen gegründet werden, sodass das ganze Nebenstreckennetz aus dem DB-Konzern rausgelöst werden könnte.“ Denn für Sistenich war klar: Wo Güterverkehr fahren kann, da kann in der Regel auch die Beförderung von Personen erfolgen.

Die Pläne wurden also dem Land NRW präsentiert, das sehr angetan war. „Wer allerdings nicht sonderlich angetan war, das war die Deutsche Bahn, denn wir wollten denen ja den ganzen Verkehr umkrempeln“, lacht er. „Das ging natürlich nur, weil wir als AVV seit 1996 die Zuständigkeit für den SPNV übernommen hatten und damit auch die Gestaltungshoheit.“ Es entstand ein sehr langwieriger Prozess, der aus unzähligen Diskussionen mit der Deutschen Bahn bestand, die sich auf diese Umstrukturierung erstmal nicht einlassen wollten. „Die wollten natürlich ihren alten Stiefel weiter fahren und das hat locker ein halbes bis dreiviertel Jahr gedauert, bis wir die Vertreter der DB soweit hatten“, schmunzelt Sistenich.

Zum Überzeugungsprozess gehörte beispielsweise auch eine Reise nach Bayern. „Wir sind nach Bayern gefahren und haben mit der Stoppuhr bewiesen, wie gut das Flügelkonzeptkonzept dort funktioniert. Im Anschluss haben wir dann die Frage gestellt, wieso das in NRW denn nicht ginge.“ Und tatsächlich: Die Vertreter der Bahn konnten überzeugt werden. Nach einjähriger Verhandlung konnten das Land NRW, der Zweckverband AVV, die Deutsche Bahn und die Vorgängerorganisation der EVS dann tatsächlich einen Rahmenvertrag unterzeichnen.

„Am Tisch dabei – viele Juristen – das war schon sehr mühevoll.“

Dann ging es endlich los – Verkehrsverträge mussten verhandelt werden. „Ich nenne nur ein Beispiel: Die Eigentumsakten alleine für die Strecken damals, das waren 23 Ordner. Man muss sich mal vorstellen, was das heißt, das rein rechtlich zu übertragen und darüber hinaus mit der Deutschen Bahn die Verkehrsverträge auszuhandeln, die ja über 10 Jahre gingen. Am Tisch dabei – viele Juristen – das war schon sehr mühevoll. Aber es ist uns gelungen, diese konkreten Verträge – Verkaufs- und Verkehrsverträge – auf die Reihe zu bekommen.“

„Überall wurden Strecken abgebaut, bei uns wurden Strecken aus- und sogar neugebaut – Wahnsinn!“

1999 wurde der Rahmenvertrag unterschrieben, Ende 1999 begann man mit den ersten Bauarbeiten, 2001 fuhr die erste euregiobahn. „Das war schon ein Pionierprojekt. Es war in Deutschland so, wie wir das gemacht haben, einfach nicht üblich. Und wird es auch wahrscheinlich nicht mehr sein.“ Denn Sistenich und seine Mitstreiter nutzten damals die Gunst der ersten Stunde.

„Wenige Jahre später wäre das ganze Projekt unmöglich gewesen. Da gab es auf einmal ganz neue Bestimmungen, auch bezüglich der Vergaberechte. Das genutzte Zeitfenster zur Umsetzung der euregiobahn ermöglichte ein sehr pragmatisches Verfahren – das ist schon ziemlich einmalig gewesen. Überall wurden Strecken abgebaut, bei uns wurden Strecken aus- und sogar neugebaut – Wahnsinn!“; resümiert Sistenich.

Seine Motivation, das Projekt zu forcieren, basierte auf 3 Leitlinien. „Zum einen bekamen wir vom Land Geld zur Finanzierung des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV). Das Geld haben wir uns angeguckt Wir haben gerechnet und unsere Erkenntnis war: Mit diesem Geld könnten wir einen viel besseren Schienenverkehr auf die Strecke bringen. Außerdem befand sich der Aachener Nordraum immer noch im Strukturwandel. Die Ringbahn war ja ursprünglich einmal für den Steinkohlebergbau gedacht. Darüber wurden Kohle und Bergleute transportiert. Als die Steinkohle aufgegeben wurde, lag da alles brach. Dass eine Region sich aber natürlich wieder neu aufstellt, dass Räume neu gestaltet werden – das war alles absehbar.“ Und dieser Strukturwandel wurde durch die Schaffung eines neuen Bahnkonzeptes natürlich unterstützt. „Unsere Bahn sollte dort lang fahren, wo die Menschen wohnen und wo sie arbeiten. Mit der Bahn konnte man mitten in die Orte reinfahren, wir konnten Stolberg, Alsdorf, Eschweiler oder Herzogenrath im zentralen Bereich ganz anders erschließen und viel besser mit dem Busverkehr verknüpfen.“ Was durch die euregiobahn entstand? Ein besseres Gesamtsystem! „Eine Verbesserung des Verkehrs, die Schaffung neuer Haltepunkte und das Heranbringen der Bahn an Arbeitsplätze und Wohnorte – das waren damals meine großen Leitlinien.“

Was Sistenich „rekordverdächtig“ nennt, ist der Zeitraum in dem die euregiobahn quasi auf die Schiene gesetzt wurde. Das dauerte in Summe maximal ein bis zwei Jahre. „Dass wir ein Planfeststellungsverfahren für eine Neubaustrecke (Weisweiler – Langerwehe) in 18 Monaten hinbekommen haben, das gibt es in ganz Deutschland nicht. Sowas zieht sich sonst länger als zehn Jahre in die Länge.“ Rekordverdächtig konnte das Projekt auch werden, weil bereits in der Planungsphase alle Akteure an einen Tisch geholt wurden, um Pläne vorzustellen und auch bei Flächenerschließungen vorab Lösungen zu erarbeiten. „So konnten wir zum Beispiel auch bei Grundstückseigentümern den Wind aus den Segeln nehmen und hatten in der konkreten Umsetzungsphase keine rechtlichen Schritte zu erwarten, die den Prozess wieder verlangsamt hätten.“

Und irgendwann übernahm auch ein Bierdeckel eine tragende Rolle

Irgendwann hörte Sistenich auf, die Anzahl der Vorträge zum Thema zu zählen. „Es gab lang anhaltende politische Debatten in den Kommunen – es waren nicht gleich alle Feuer und Flamme. In Alsdorf habe ich sehr viele Vorträge gehalten, um von unserem Plan zu überzeugen. Insgesamt habe ich bestimmt über 250 Vorträge zu dem Thema gehalten, um ja auch alle (Bund, Land, Fraktionen, Verwaltungen, Bürgerinitiativen) mitzunehmen.“

Am Ende waren alle vom Projekt euregiobahn begeistert, doch der Weg dahin war steinig. Da musste Sistenich auch mal pragmatisch werden. In einer parlamentarischen „Gruppe Bahn“ im Landtag wurden die Streckenpläne auch kurzerhand auf einen Bierdeckel gemalt. „Um allen Beteiligten überhaupt mal zu visualisieren, was wir da eigentlich vor haben – dazu sind am Rande des Landtags auch mal Bierdeckel bemalt worden“, lacht Sistenich.

Der Vater der euregiobahn – Sistenich bleibt bescheiden

20 Jahre später blickt er stolz zurück. „Ich fahre öfter die Vaalser Straße entlang und wenn ich dann an der Schanz die euregiobahn fahren sehe, dann freue ich mich noch immer. Das ist heute, 20 Jahre später, immer noch so wie am ersten Tag. Wenn ich die vollen Züge sehe und dass die Menschen das Projekt angenommen haben – das macht mich glücklich.“ Was ihn außerdem glücklich macht? Er lacht. „Dass ich damals die Wette gewonnen habe, wie viele Einsteiger es wohl an der Schanz geben würde.“ Sistenich schätzte 6.000, sein Wettgegner rechnete mit maximal 1.000 Fahrgästen. „Heute liegen wir im Bereich zwischen 4.000 – 7.000 Fahrgästen.

Doch auf dem Weg zur erfolgreich etablierten Bahn gab es auch einige schlaflose Nächte, viele Herausforderungen. „Geschwitzt habe ich zum Beispiel, als 3 Tage vor der Inbetriebnahme des Haltepunktes Aachen-Schanz festgestellt wurde, dass ein Bahnsteig zu kurz war. Das waren Dinge, da bin ich zur Hochform aufgelaufen, um zu regeln, dass man das noch hinbekommt. Da kann man nur zum Telefon greifen und alle so in den Senkel stellen, dass eine Lösung her muss. Das ist dann am Ende auch mit drei Krisensitzungen auf dem Bahnsteig gelungen.“

Doch trotz allen Erfolgs bleibt Hans Joachim Sistenich bescheiden. „Viele Personen haben dazu beigetragen, dass die euregiobahn erfolgreich wurde. Die initiale Idee kam natürlich stark von mir und von Peter Jacobs (damaliger Abteilungsleiter Leistungsangebot beim AVV). Wir haben das Ganze auch immer nach außen getragen. Doch zum Erfolg der Sache gehörten Bezirksregierungen, Unternehmen und andere Beteiligte. Ich glaube, dass wir von Beginn an alle Beteiligten an einen runden Tisch gebracht haben und vertrauensvoll zusammen gearbeitet haben – das ist der Grund, warum alles so gut funktioniert hat. Das war und ist nicht der Erfolg eines einzelnen, sondern einer großen Gruppe.“

„Es geht immer weiter, aber durch die vielen reaktivierten Strecken haben wir das Fundament geschaffen – und das ist das wichtigste gewesen.“

Auch heute, viele Jahre später, gibt es den Punkt des Stillstandes nicht. „Auch jetzt sind immer wieder Erweiterungen des Netzes in Planung. Aber das wichtigste ist: Das Fundament ist da – dadurch, dass wir damals die Taktverkehre erfolgreich geschaffen haben. Der gesamte Schienenverkehr muss ja ineinander greifen. Wenn wir auf die Hauptbahn kommen, da gibt es internationalen Fernverkehr, da fahren Thalys und ICE, der internationale Güterverkehr. Wenn man da einfach einen Taktverkehr zwischen schiebt, kann das natürlich Konflikte geben. Es sieht immer so banal aus, wenn da so ein „Zügelchen“ fährt, aber bis sich das in ein Gesamtsystem einfügt, das ist schon eine große Herausforderung. Es geht immer weiter, aber durch die vielen reaktivierten Strecken haben wir das Fundament geschaffen – und das ist das wichtigste gewesen.