Es ist ein sonniger Freitagnachmittag. Anika wartet an der Haltestelle auf ihren Bus. Als dieser kommt, steuert sie routiniert auf die mittlere Tür zu. Ein hilfsbereiter Fahrgast klappt für sie die Rampe aus und sie steigt ein. Die Rampe wird wieder eingeklappt, die Türen schließen und die Fahrt geht weiter.

Die 25-jährige Anika leidet an einer neuromuskulären Erkrankung und sitzt im Rollstuhl. Ihr Gehirn hat Schwierigkeiten, die richtigen Signale an die Muskeln zu senden. Deshalb kann sie ihre Beine nicht richtig bewegen. Da sie in diesem Zusammenhang auch eine visuelle Wahrnehmungsstörung hat und ihr dreidimensionales Denken beeinträchtigt ist, darf sie kein Auto fahren und ist in ihrem Alltag somit sowohl auf den Rollstuhl als auch auf Bus und Bahn angewiesen. Wir haben Anika getroffen und mit ihr über ihr Leben, ihren Beruf und ihre Erfahrungen im öffentlichen Nahverkehr gesprochen.

Anika

ROLLSTUHLFAHRERIN UND NUTZERIN ÖFFENTLICHER VERKEHRSMITTEL

„Ich wollte etwas tun, in dem meine Talente zur Geltung kommen.“

Schon früh war Anika sich sicher, dass sie einmal etwas Soziales erlernen will. Etwas, das mit Menschen zu tun hat. Einen Job, mit dem sie anderen helfen kann. Einen Beruf, der in ihrem Fall sicher auch eine Berufung ist. „Nach meinem Abitur habe ich zunächst ein Psychologiestudium begonnen, aber das war dann doch nicht das Richtige für mich.“ Heute arbeitet Anika mit körperlich und geistig behinderten Menschen und berät sie in bürokratischen Angelegenheiten. Sie erklärt ihnen zum Beispiel, wie sie eine Pflegestufe oder einen Schwerbehindertenausweis beantragen können. „Es war schon immer mein Plan, etwas in diese Richtung zu machen“, verrät sie. „Ich wollte etwas tun, in dem meine Talente zur Geltung kommen.“ Sie entscheidet sich damals dazu, soziale Arbeit zu studieren. Die richtige Wahl – heute ist sie in ihrem Job sehr zufrieden. „Natürlich ist es manchmal vorteilhaft, dass ich die Klienten auch aus eigener Erfahrung beraten kann. Die Leute erzählen mir viel mehr, als sie einem Nichtbehinderten erzählen würden.“

Außerhalb des Büros lebt Anika ihren ganz normalen Alltag: Sie kauft ein, putzt ihre Wohnung und stemmt den Haushalt. „Ich mache Dinge, wie jeder andere auch. Bei mir dauert es eben nur alles ein bisschen länger.“

„Mein Hobby war sehr zeitintensiv. Mindestens sechsmal pro Woche habe ich trainiert. “

Um abzuschalten und einen Ausgleich zur Arbeit zu schaffen, besucht sie regelmäßig einen Pilates Kurs. Das tut ihrer Muskulatur und ihrer Seele gut und macht ihr großen Spaß.

Sport gehört schon seit Kindertagen zu Anikas Leben, denn aufgrund ihrer Behinderung sind ihre Muskeln oft angespannt. Dem muss sie mit Bewegung entgegenwirken. Als sie acht Jahre alt war, meldeten ihre Eltern sie in einem Schwimmverein an. „Das fand ich anfangs überhaupt nicht witzig“, erinnert sie sich. Doch sie hatte großes Talent – das erkannte ihr Trainer sehr schnell. Er bereitete sie auf Wettkämpfe vor und sie trainierten fleißig, Woche für Woche. Bereits mit elf Jahren wurde sie für den Nationalkader entdeckt. Und ihr Weg sollte sogar noch weiter gehen: Sie wurde Teil der Nationalmannschaft, schwamm Europa- und sogar Weltmeisterschaften. Als es dann auf ihr Abitur zuging, zog sie sich jedoch aus dem Wettkampfschwimmen zurück. „Zu der Zeit wechselte der Trainer meines Teams. Das hat dann leider nicht mehr so gut gepasst. Außerdem war mein Hobby sehr zeitintensiv. Mindestens sechsmal pro Woche habe ich trainiert.“ Zahlreiche Stunden verbrachte sie folglich in der Schwimmhalle. „Heute schwimme ich nur noch ganz selten. Ich habe das so viele Jahre über gemacht, da brauche ich das jetzt nicht mehr so oft, irgendwie.“

„In der Innenstadt kann ich mich sehr gut auf die Busse verlassen. Die meisten Menschen sind hilfsbereit und alles läuft glatt.“

Um von A nach B zu kommen, nutzt sie öffentliche Verkehrsmittel. Und das klappt in der Regel auch ganz gut: „In der Innenstadt kann ich mich sehr gut auf die Busse verlassen. Die meisten Menschen sind hilfsbereit und alles läuft glatt.“ Trotzdem gibt es manchmal Ausnahmen, in denen das Busfahren für sie nicht so funktioniert, wie sie es sich wünscht. „Teilweise ist der Bus viel zu voll und die Leute machen keinen Platz für mich. Dann muss ich auf den nächsten Bus warten.“ Da das ziemlich unvorhersehbar ist, plant Anika grundsätzlich immer zu viel Zeit für ihre Fahrten ein. „Ich bin bekannt dafür, immer und überall zu früh zu sein“, lacht sie.

Aber nicht immer sind es überfüllte Busse, die Probleme bereiten. An manchen Haltestellen kann sie nämlich nur schwer oder gar nicht aussteigen. Entweder sind Pfeiler, die das Ausklappen der Rollstuhlrampe erschweren, im Weg oder Bürgersteige sind zu hoch. „Zum Glück kenne ich mich nach all den Jahren gut aus und weiß genau, wo ich ein- und aussteigen kann und wo ich lieber eine Haltestelle weiter fahre und den Weg selber zurück rolle.“ Ihr größter Wunsch? Eine direkte Busanbindung auf den Marktplatz. Dort kommt sie nämlich aufgrund der Steigung und des Kopfsteinpflasters mit dem Rollstuhl nur sehr schwer hin.

„Legt eure Vorurteile ab und akzeptiert mich als Menschen! “

Doch es ist nicht nur die Busverbindung, die sie sich wünscht. Wenn sie auf der Straße unterwegs ist, starren sie viele Menschen an. Das falle ihr mittlerweile schon gar nicht mehr richtig auf, trotzdem ist sie regelmäßig mit den unangenehmen Blicken konfrontiert. „Wenn ich mich jedes Mal darüber ärgern würde, wäre ich mit nichts anderem mehr beschäftigt. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass das seltener vorkommt. Manchmal, wenn jemand zu lange starrt, winke ich gerne mal und frage, ob ich helfen kann.“ Schlagfertigkeit gehört zu Anikas Stärken – sie wehrt sich und verschafft sich so Gehör. Und das ist leider immer wieder notwendig. „Es gab schon Situationen, in denen mir Leute im Bus einfach den Kopf tätscheln oder mich aus dem Nichts umarmen. Das geht natürlich gar nicht. Ich bin ein ganz normaler Mensch und möchte, dass meine Privatsphäre respektiert wird.“ Ihr Appell an diese Leute lautet: „Legt eure Vorurteile ab und akzeptiert mich als Menschen!“